Ranftweg

800 Jahre Sonnengesang

 

Feldkirch Raphaela Sonnengesang4 2Sonne, Mond, Sterne stehen als kosmische Lichtgestirne «am Himmel». Drei Arten von Geschöpfen und unendlich an Zahl, verweisen sie auf Gottes Welt, ewig und alles umfassend. Zugleich sorgen sie für die Rhythmen von Tag und Nacht, der Monate und der Jahreszeiten, durch die unsere Welt lebensfreundlich ist.

Bild: Sonne, Mond und Sterne in einem der Sonnengesang-Fenster der Kapuzinerkirche Feldkirch, Werk der Ingenbohler Schwester Raphaela Bürgi.

Wasser, Luft, Feuer, Erde stehen für die irdische Welt. Das Mittelalter lehrt, dass diese mit all ihren Wesen aus diesen vier Urelementen besteht. Menschen, Tiere, Pflanzen und Mineralisches sind alle in diesen vier Strophen mitgemeint. Die Vierzahl findet sich in den Jahreszeiten, den Himmelsrichtungen und den Temperamenten. Franziskus stellt die klassische Reihenfolge um: Bruder Wind (frate vento) spielt mit Schwester Wasser (sora acqua), Bruder Feuer (frate focu) mit Schwestern Mutter Erde (sora matre terra) zusammen. Der Sänger stimmt mit allen Geschöpfen in ein Gotteslob ein, das Himmel und Erde verbindet: 3 + 4 sind 7, die Symbolzahl der Schöpfung: Sie ist weder Exil noch Tränental, sondern Gottes Werk, gut und schön geschaffen. Damit stellt der Dichter sich gegen zeitgenössische Strömungen wie die der Katharer, die dualistisch eine gute von einer schlechten Welt abgrenzen und leibfeindlich werden.

Die ganze Schöpfung ist geschwisterlich: Wie in San Damiano Schwestern und Brüdern gemeinsam Gott feiern, können dies irdisch und kosmisch alle Geschöpfe tun.

Nach der Textsammlung von Perugia soll Franziskus die Menschenstrophe noch im Mai 1225 eigens zur Versöhnung von Bischof Guido II. und dem neuen Bürgermeister Bernardo di Oportulo hinzugedichtet haben. Wie jedes Geschöpf als Kunstwerk vom göttlichen Künster erzählt, kann der Mensch es am eindrücklichsten, wenn er Gottes Liebe erfahrbar macht. Das wird bewegend spürbar, wenn er in Konflikten, Krankheit und Stress den Frieden bewahrt, versöhnlich ist und «per lo tuo amore» (in der Kraft von Gottes Liebe handelt.

Die Strophe auf den Tod, der ungewöhnlich als „Schwester“ erscheint, dichtete Franziskus in den letzten Wochen seines Lebens. Wer vor Gott treten kann und will, kann sich von «sora morte corporale» als Begleiterin ins ewige Glück leiten lassen. Da die Liebe als Tochter der Freiheit nie zwingen kann und auch Gottes Werben es nicht tut, bleibt dem Menschen die Wahl: Wer statt Gottes Nähe seine Ferne, statt die Gemeinschaft mit allen Vollendeten das Alleinsein und statt Licht das Dunkel wählt, würde dem Tod der Seele verfallen.

Die Zahlensymbolik des Liedes bringt Christus feinsinnig mit ins Spiel. Die Endfassung zählt 33 Verse, im Mittelalter die Lebensjahre des Gottessohnes auf Erden. Damit wird die Schöpfung nicht nur als Werk Gottes besungen, sondern auch als Wahlheimat Gottes. Nach 33 Jahren seines menschlichen Lebens öffnete Jesus durch Tod und Auferstehung die «Pforte zum ewigen Leben» und damit den Übergang aus unserer Welt in die neue Schöpfung Gottes. Daher kann der sterbende Franz von Assisi vertrauensvoll sagen: «Sag es mir nur, Bruder Arzt, dass der Tod nahe ist. Sie wird mir die Pforte zum Leben sein.» Und zum Tod: «Sei mir willkommen, meine Schwester»!

Die Dynamik des Liedes beginnt im ersten Vers bei Gott, dem «Höchsten», und steigt über die Sonne, den Mond, die Luft und das Wasser immer tiefer, um beim Feuer und der Erde anzukommen. Am tiefsten Punkt wird das Grab nicht zum Ende, sondern lässt «dankbare und geerdete Menschen in Gottes Dienst» im Schlussvers durch die Auferstehung (Vers 33) zu Höchsten aufsteigen und in seine lichtvolle Welt eintreten. Das Ja zur Erde wird verbindet sich damit auch mit der Vorfreude auf den Himmel.