Angelusläuten und Angelusgebet

Der Name eines Gasthauses in Frankreich erinnert an eine Einkehr, die auch der Seele Rast wünscht. Die Vorlage für das Wirtshausschild ist ein Gemälde von Jean-François Millet.

Ein Bauer und seine Frau hören das Angelusläuten aus dem nahen Dorf, lassen Gabel und Karren ruhen und sammeln sich für das Gebet, das mit den Worten "Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft" beginnt. Bruder Niklaus Kuster skizziert in Vorträgen zum christlich-islamischen Dialog die Geschichte dieses Angelusgebets. Als Praxis der Alltagsspiritualität verdankt es sich der Begegnung des Franz von Assisi mit dem Islam:
Mitten im Fünften Kreuzzug scheitert die brüderliche Friedensmission in Ägypten, doch inspiriert die Salāt-Gebetspraxis der Muslime den christlichen Mystiker. Der Gebetsrufs des Muezzins, der täglich fünfmal vom Minarett der Moscheen ertönt, findet auf Franziskus' Initiative hin eine Entsprechung im Gebetsläuten des katholischen Abendlandes. Wie kam es dazu? Und auf welchen Wegen dürfte das Alltagsgebet der Muslime seinerseits jüdisch-christlich-klösterlich inspiriert sein?
Ein ermutigender Streifzug durch 2500 Jahre interreligiösen Lernens!

Die Ikone aus dem Atelier der Klarissen von Jongny, die der Souffle d'Assise von Saint-Maurice als kostbares Geschenk hütet, erinnert an die Begegnung von Franziskus und Sultan Muhammad al-Kāmil in Ägypten. Frucht seiner Begegnung mit dem Islam sind Rundbriefe, die der christliche Mystiker zurück in Italien verfasste. Beeindruckt vom ehrfürchtigen Umgang der Imame mit dem Koran bittet Franziskus im Rundbrief an die Kleriker, auch im christlichen Europa mit allen heiligen Worten, die geschrieben sind, respektvoll umzugehen und ebenso mit den "heiligsten Namen" Gottes in der eigenen Religion. Franziskus selbst wird 1224 seine persönliche Litanei der "schönsten Namen Gottes" im Lobpreis von La Verna in ein Lied fassen, das mit vielen weiblichen Gottesnamen überrascht.
Und wie kommt es zum Angelusläuten?
Das Bild zeigt eine Glocke, die im Wallis seit dem 15. Jahrhundert jeweils morgens, mittags und abends zum "Engel des Herrn" gerufen hat, bis sie ein Blitzschlag in den Kirchturm verstummen liess. Das Motiv des "Angelus Domini" ist in die Glocke hineingegossen.
Franz von Assisi regt in einem weiteren Rundbrief an "die Lenker der Völker" und "an alle Menschen" an, dass jedes Volk auf Erden, jede Kultur und Religion wenigstens einmal täglich auf ein öffentliches Zeichen hin innehält und Gott dem Höchsten die Ehre erweist. Inspiriert ist die Initiative unverkennbar von der Salāt-Gebetspraxis des Islam, zu der die Muezzine fünfmal täglich aufrufen.
Als die Franziskaner ab 1228 städtische Kirchen übernahmen und sich ab 1240 in ganz Europa Konvente bauen liessen, läuteten sie auf dieses Schreiben hin jeden Abend ihre Glocke und lehrten die Gläubigen im Umfeld, zusammen mit ihnen die Begegnung zwischen dem Erzengel Gabriel und Maria in Nazaret zu betrachten. Dazu wurde der Dialog zwischen dem Himmelsboten (Angelus Domini) und Maria betrachtet und mit dem Ave-Gebet verbunden: Maria lässt sich mitten im Alltag von der Zuwendung Gottes überraschen und findet sich bereit, den Gottessohn auf die Welt zu bringen. Franz von Assisi traut dasselbe im "Rundbrief an die Gläubigen" allen Christinnen und Christen spirituell zu.
Als sich die Praxis als abendliches Volksgebet etabliert hatte, kam schrittweise das Morgenläuten und das Mittagsläuten dazu. Päpste und französische Könge verordneten diese Gebetseinladung in allen katholischen Kirchen. Im 15. Jahrhundert setzte sich das Angelus-Läuten zunächst in ganz Frankreich und ab 16. Jahrhundert in der ganzen katholischen Weltkirche durch. Auch evangelische Kirchen kennen die Praxis bis heute.
Das fünfmalige Pflichtgebet des Islam, das der Prophet zu Beginn des christlichen Frühmittelalters einführte, dürfte seinerseits Vorbildern folgen. Muhammad lernte mit Karwanen unterwegs in jungen Jahren klösterliche Eremitensiedlungen in Syrien kennen. In Lauren lebten die Mönche individuell in Höhlen oder Zellen, und ein Zeitwächter rief sie mit akustischen Zeichen siebenmal täglich zum gemeinsamen Gebet ins Oratorium. Bereits die frühe Kirche kannte feste Gebetszeiten, die einem bewegten Alltag einen spirituellen Rhythmus gaben. Die afrikanische Kirche lehrte um 200 nC nach Tertullian ("De oratione") Gläubige, bei Tages- und Nachtbeginn sowie vormittags, mittags und abends zu Ehren des Dreifaltigen Gottes betend innezuhalten. Wie in Islam pflegte die Kirche von Karthago damit fünfmal täglich zu beten, zuzüglich der Gebete bei den beiden Mahlzeiten und vor jedem Bad, um "vor dem Körper auch die Seele zu nähren erfrischen". Diese christliche Gebetspraxis wiederum inspirierte sich an jener frommer Jüdinnen und Juden, die nach Psalm 119 siebenmal am Tag und nach Psalm 42 einmal nachts die Hände zum Himmel erhoben.
Die folgenden Folie aus den Vortragsunterlagen von Br. Niklaus Kuster fasst diese ermutigende Geschichte eines jüdisch-christlich-islamisch-franziskanisch-katholischen Lernens in der Alltagsspiritualität zusammen:

Und zwei weitere Folien blicken auf die erste Bildbiografie zu Franz von Assisi, gemalt in Florenz um 1250, in der Zeit, als das Angelusgebet sich im christlichen Alltag breiterer Kreise zu etablieren begann. Coppo di Marcovaldo zeigt im linken Bildstreifen, wie Franziskus seine Horizonte schrittweise weitete: über die eigene Ortskirche und die Weltkirche hinaus auf die Schöpfung und auf die ganze Menschheitsfamilie.
Franziskus von Rom knüpft daran an, wenn er sich in seinen Enzykliken und seinen Reden an die ganze Menschheit wendet und für weltweite "Geschwisterlichkeit" ohne Grenze einsteht.



